Pädagogische Anmerkungen

Die Spielstadt – Ein Modell für neues Lernen

 

„Als ich die Sporthalle auf dem Olympia-Gelände mit der darin aufgebauten ,Kinderstadt’ Mini-München zum ersten Mal betrat und, von oben, in verschachtelte Räume, Gassen und Plätze blickte, konnte ich mich lange nicht von der Stelle rühren, so fand ich mich durch das Bild berührt“, resümiert Gert Selle, Professor für ästhetische Erziehung in Oldenburg, seinen ersten Blick auf die Spielstadt und fährt fort: „Als moderner pädagogischer Entwurf hat sich das Mini-München-Großprojekt im Diskurs glänzend bewährt … Weshalb war ich, der kühl Beobachtende mit dem fremden Blick, plötzlich so hingerissen von der Bildhaftigkeit des Ortes, an dem alles Geschehen sich verdichtete – von der jeden Tag erwachsenden, aufs Neue von den Kindern belebten Stadt am Boden der Halle, geschützt, verheißungsvoll aufgeladen mit Teilhabeversprechen an einem unbekannten Leben voller Ereignishaftigkeit? … Täglich entsteht da als gewollte Antwort auf die Situation eine ,soziale Plastik’, wie Beuys sie sich vorgestellt haben mag: das immer wieder selbstreproduktiv erneuerte Spielstadt-Geschehen als Prozess oder Struktur in der Zeit an diesem Ort als Geflecht sozialer Wahrnehmungen, Beziehungen und Produktionen.“ (aus Zeitschrift „Poiesis“ von Gert Selle, Prof. für Ästhetische Erziehung, Oldenburg)

Gleich, ob man die Spielstadt Mini-München als immer wieder neu verabredetes und variantenreiches Spiel der Kinder, als visionäres pädagogisches Projekt oder als eigenständiges ästhetisch-künstlerisches Produkt, eine sich permanent verändernde soziale Plastik, betrachtet – aus jedem dieser Blickwinkel ist sie diskussionswürdig. Sie widersetzt sich, ausgehend von ihrer Grundstruktur, den vereinbarten Regeln und der didaktisch legitimierten Inszenierung, allen üblichen pädagogischen Gewohnheiten. Regeln wie Inszenierung dienen allein dazu, den Kindern einen produktiven Handlungsrahmen zu schaffen, in dem sie selbstorganisiert handeln können. Wer sich erst einmal aktiv wahrnehmend auf die Spielstadt einlässt, sich Zeit nimmt, um zu erfassen, wie die vielen einzelnen Handlungen und Tätigkeiten in Bezug zueinander stehen, stellt unweigerlich fest, dass all dies nur als „Leben“ beschrieben werden kann. Die Spielstadt stellt eine für Kinder aktuelle Wirklichkeit dar. Sie unterscheidet sich zwar von der realen Erwachsenenwelt, bezieht aber aus ihr die Erfahrungen und Referenzen, die die Kinder für ihr eigenes Spiel benutzen.

DIE KINDERSTADT ALS SPIEL

Die Idee ist so einfach wie universell: Mit verschiedenen Einrichtungen – Läden, Werkstätten, Banken, Post, Rathaus, Müllabfuhr, Bibliothek, Gärtnerei – wird eine Stadtlandschaft als Aktionsfläche zur Verfügung gestellt. Die darin angebotenen Spielrollen können von den Kindern übernommen, ausgestaltet und nach eigenem Ermessen interpretiert werden. Je nach Vorerfahrungen und Wissen über diese Einrichtungen steigen die Kinder in die verschiedenen Spielrollen ein und kommen nach und nach im gemeinsamen Spiel an: Beziehungen entstehen, Netzwerke und Vereinbarungen entwickeln sich. Die Stadtlandschaft wird mit Leben gefüllt. Die Grundregeln, arbeiten, studieren, Geld verdienen und ausgeben, Kultur und Politik machen, sind rasch vereinbart, sie sind – wie bei allen Spielen – von den Kindern zu bestätigen bzw. neu untereinander auszuhandeln. Einfache Rituale erleichtern den Spieleinstieg, sich einen Stadtausweis holen oder der obligatorische Gang zum Arbeitsamt am Beginn des Spieltags.
Damit die einzelnen Einrichtungen der Stadt und die Spielrollen zueinander in Bezug gesetzt werden können, bedarf es eines vereinbarten Austausches. Ein allen Kindern bekanntes Tauschmittel ist Geld, Spielgeld, das in den städtischen Betrieben verdient und auch ausgegeben werden kann. Die damit in Gang gesetzte Dynamik des Stadtlebens wird gesteigert durch Steuern, Abgaben, ein regulierendes Banksystem sowie reale Erwerbsanreize.
„Wir tun so, als ob es eine Stadt wäre …“ – das ist die grundlegende Übereinkunft. Innerhalb dieses einfachen Settings kann sich das Spiel so richtig entwickeln. Dies vor allem dann, wenn die Spielmaterialen und die Grundinszenierung es zulassen, dass Ernsthaftigkeit und Verbindlichkeit das Handeln prägen. Unterschiedliche Interessen und Fähigkeiten, Erfahrungshintergründe (Alter, Gender, Herkunft, etc.) kommen dann zum Tragen, wenn die Spielrollen von den Kindern selbst stark ausdifferenziert werden können. Verstärkt wird dieser Effekt noch dadurch, dass die einzelnen Handlungen und Tätigkeiten „Folgen“ haben. Es werden zu gebrauchende Möbel aus Holz hergestellt, im Laden Waren verkauft, die in den Spielstadtwerkstätten produziert wurden, im Restaurant Speisen serviert, die in der Küche von den Kindern zubereitet wurden.

Das funktioniert nur, wenn Erwachsene den Kindern den Betrieb der Spielstadt auch zumuten. Der hohe Aufforderungscharakter, der von der Einrichtung der Betriebe und Werkstätten, sowie ihrer Ausstattung mit Materialien, Werkzeugen und ihrer Projekte, ausgelöst wird, muß einhergehen mit dem Vertrauen darauf, dass die Kinder diese Herausforderungen auch annehmen. Die Grundfunktionen der Betriebe müssen einerseits plausibel
sein, andererseits bleibt die Art und Weise, wie die Aufgaben wahrgenommen und erledigt werden, Gestaltungsaufgabe der Kinder.

KOMPLEXITÄT ALS WESENSMERKMAL VON STADT

Städte sind dynamische Konstrukte. Das Leben in Städten ist gleichsam verdichtet und beschleunigt. Wer in eine fremde Stadt kommt, weiß weder, wie diese „tickt“, wie ihre Räume zu nutzen sind, wer in ihr lebt noch wie und in welcher Weise sie sich von anderen Städten unterscheidet. Je nachdem was unsere Interessen in einer Stadt sind, dort zu leben oder ihr als Tourist einen Besuch abstatten, verhalten wir uns ganz anders. Städte üben eine große Anziehungskraft auf Menschen aus und sind als Systeme dazu in der Lage, in ganz kurzer Zeit viele Neuankömmlinge in ihre Verläufe zu integrieren. Es braucht aber Zeit, um Teil einer Stadt zu werden.

Städte haben zur Aufnahme von Neubürgern verschiedene formale und informelle Verfahren entwickelt. Die Grundregel, dass man sich erst einmal melden muss, um Bürger einer Stadt zu werden, ist jedem bekannt. Kniffliger, aber ungleich spannender wird es, wenn man nach und nach die Muster feiner Regelwerke, informeller Vereinbarungen und Verabredungen entdeckt, die sich im Laufe der Zeit auf der Basis von Erfahrungswissen wie Traditionen der unterschiedlichsten Bewohnergruppen ergeben haben. Je höher die Anforderungen an eine Stadt sind und je vielfältiger die Bedürfnisse ihrer Bewohner, desto stärker spielen informelle Austauschprozesse eine Rolle.

Gewissermaßen gilt das Gleiche für eine Spielstadt wie Mini-München. Auf Kinder wirkt sie vor allem deshalb faszinierend, weil sie durch ihre unterschiedlichen Mitnutzer, „Bewohner“, in vielerlei Hinsicht genau diese Komplexität entstehen läßt. Eine Spielstadt wird umso komplexer, je mehr verschiedene, unterschiedlich alte und interessierte Kinder mitspielen und mitgestalten, je ausdifferenzierter Binnenabsprachen, Zwischenverabredungen entwickelt und wieder verworfen werden und je dichter die sozialen Interaktionsprozesse werden, die auf der Grundlage der Spielstruktur entstehen. Jeder neue Mitspieler fängt erst einmal an, diese Strukturen zu erkunden. Erst nach und nach und vor allem dann, wenn niemand drängt, ist er in der Lage, die Möglichkeiten des Spiels auszuschöpfen und darin aufzugehen. So, wie Kinder eben spielen.

KANN DAS GUT GEHEN? RISIKO ALS PÄDAGOGISCHE KATEGORIE

Obwohl pädagogische Prozesse nie eindeutig sind, in ihrer Wirkung immer komplex, und folglich immer auch Risiken bergen, ist es häufig erklärtes Ziel in der Vermittlungsarbeit, diese möglichst so zu organisieren und zu reduzieren, dass sie überschaubar bleiben und dass am Ende auch genau das erreicht wird, was gewollt war.

Wir beobachten also folgendes Phänomen: Bei gleichzeitiger Zunahme von Komplexität in realen gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen geht die Pädagogik häufig den Weg in die entgegengesetzte Richtung – Vereinfachung, Reduktion, Aufteilung und Modularisierung von Handlungen. Dazu kommt eine festgelegte Methodenauswahl und – wenn irgendwie möglich – die vorhersehbare Festlegung von Lernzielen nach fest vereinbarter Zeit. Damit minimiert sich das Risiko maximal für diejenigen, die diese Pädagogik verantworten. Das Risiko für die nachwachsende Generation wird dabei immer größer: Komplexität wird als massiver Verunsicherungsfaktor erlebt und man gerät unter extremen Stress, wenn man Handlungen nicht mehr deuten kann oder Anleitungen dazu nicht sofort zur Gänze verstanden hat. Besonders dramatisch wirkt sich dies dadurch aus, dass sich der Tagesablauf der Kinder beinahe lückenlos in pädagogisch formal zugerichteten Räumen abspielt und gleichzeitig der öffentliche Raum zunehmend
kinderlos wird. Die Orientierung in den vielen Realitäten (analog, digital, medial, sozial, usw.) wird für sie immer schwieriger.  Obwohl Mini-München an sich ein geschützter, didaktisch geplanter Raum ist, entstehen darin differenzierte wie höchst unterschiedliche soziale Interaktionsmuster und Handlungen. Der Umgang mit Komplexität kann gewissermaßen in einem geschützten Rahmen, mit Gleichbetroffenen, geübt werden. Voraussetzung dafür ist, dass die pädagogischen Organisatoren daran interessiert sind und das Wagnis eingehen, maximale Ausdifferenzierung im Spiel zuzulassen und zu unterstützen.

Die Ermöglichung solcher Freiräume ist nicht selbstverständlich, schon gar nicht, wenn vorausgesetzt ist, dass sich der Erhalt ihrer Dynamik allein aus den Regeln ergibt und ohne Belehrung auskommt. Folgenden Herausforderungen haben sich Pädagogen zu stellen: – Selbstverständlich gibt es Kinder und Jugendliche, welche von der Spielstadt und dieser Dynamik überfordert sind: zu laut, zu chaotisch, zu viele Kinder in Aktion, zu emotional und undurchschaubar. Die Betreuer sind angehalten, aufmerksame Beobachter zu sein – auch außerhalb ihrer Betriebe, denn die Kinderstadt hat auch viele Ecken und Nischen – und Möglichkeiten aufzuzeigen, wie man ins Spiel kommen könnte, doch alles ist nicht lösbar. Und dann sind da auch unweigerlich Kinder und Jugendliche, die „Bankräuber“ oder „Grundstücksspekulant“ werden möchten – immer hart an der Realität entlang, immer auf der Suche nach Lücken im Spiel und nach Möglichkeiten, die Spielgrenzen auszuloten und – zu ihren Gunsten – auszuweiten. Manche Kinder
entwickeln ein feines Gespür dafür, wie „belastbar“ das Spiel im Ganzen ist und ziehen andere mit. Tagtäglich ist dies in unterschiedlichen Variationen auszuhandeln zwischen den Kindern selbst und auch mit den Betreuern.

Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass in einer Spielstadt wie Mini-München echte Bohrmaschinen, scharfe Küchenmesser, komplizierte Druckstraßen, Dampfbügeleisen, Näh- oder Schleifmaschinen, heiße Bratpfannen und so weiter … von den Kindern benutzt werden. Dies ist notwendig, weil die Dinge, die damit hergestellt und aufbereitet werden, ebenfalls echt sind. Sie finden ihre weitere Verwendung in der Stadt, gelangen zum Verkauf ins Kaufhaus, zum Verzehr ins Gasthaus oder als Transportfahrzeug/ Taxi auf die Straßen. Das macht das Mitspielen im Prinzip schon „gefährlich“. Auch hier bedarf es feiner Beobachtung und zurückhaltender Unterstützung durch die Betreuer und vor allem eines großzügigen Vertrauens in die Kinder, dass sie den verantwortlichen Umgang damit (lernen) können.

DIE SPIELSTADTEINE PÄDAGOGISCHE VISION IN PRAXIS

Gerne wird Mini-München als die „Stadt im Kleinen“ bezeichnet. Gemeint ist damit auch „wie nett, da spielen die Kinder Erwachsene und lernen, wie man arbeitet und Geld verdient … und …“. Ein grobes Missverständnis, wie sich bei genauem Hinsehen zeigt. Die Kinder und Jugendlichen tun, was sie ansonsten auch andernorts gerne täten: Sie eignen sich ihre Lebenswelt an, probieren aus, erkunden, forschen und testen – auch komplexe kulturelle Zusammenhänge und komplizierte soziale Sachverhalte.  Sie erleben es als spannend und aufregend, sich im quasi öffentlichen Raum der Spielstadt zu bewegen und sie lernen – fortwährend. Gleichzeitig kommen sie aber voll auf ihre Kosten, spielen lustvoll und gehen ihren aktuellen Bedürfnissen nach Bewegung, Lautsein, neugierig Experimentieren, affektiv-emotionalem Handeln, gemeinschaftlicher Aktion sowie kommunikativem
Austausch nach. Sie spielen nicht lediglich Erwachsene, sondern gestalten eine Welt nach ihren Bedürfnissen. An ihrem Laden hängt dann beispielsweise ein Schild mit der bündigen Aufschrift: „Wegen Reichtum geschlossen!“.

Didaktisch ausgedrückt: Spielen und Lernen sind hier als fruchtbare Einheit verknüpft. Es wird die Voraussetzung geschaffen für eine Bildung, die sich auch in non-formalen und informellen Bezügen abspielt. Dazu braucht es großzügige, einladende und nicht im Detail festgelegte Handlungsspielräume, die sich den Kindern sinnstiftend erschließen und die gestaltbar sind. Die Spielstadt als pädagogisches Modell ist ein solcher Handlungsspielraum. So wie zum Beispiel Mini-München, das alle zwei Jahre für drei bis vier Wochen seine Tore öffnet. Der Wirkungsraum einer Spielstadt ist jedoch ein viel größerer, denn sie beginnt in den Köpfen der Kinder schon lange vor dem Beginn und endet erst lange danach – sie stiftet an zum Weitermachen in eigener Sache.

Text: Gerd Grüneisl, Margit Maschek / Kultur & Spielraum e.V.